2756556457050821109037674670658903645040292n.jpg
VO ÜS
Nicht von irgendwo
Wissen

Vorarlberg: Vom Kanton Übrig zu den Besten im Westen

Sept. 08, 2023
Vorarlberg ist vieles: landschaftlich so vielfältig wie kein anderes Bundesland und wirtschaftlich stetig anderen um Nasenlängen voraus. Vorarlberg ist nicht too small, zumindest nicht für viele Touristen, die die Region jede Saison regelrecht stürmen, und am wenigsten für die Menschen, die hier leben und wirken. Mit FAIRPLACE, dem regionalen Marktplatz, rückt ein Unternehmen die Stärken der Vorarlberger auch virtuell in den Fokus.
Beginnt man ganz am Anfang, muss man bis in die keltische Zeit zurückgehen, als der Stamm der Brigantier das Gebiet des heutigen Vorarlberg besiedelte. Im Jahr 15 v. Chr. eroberten die Römer die Region und bauten die Stadt Brigantium, das spätere Bregenz, zu einem wichtigen Militärstützpunkt und Hafen am Bodensee aus. Ab dem 5. Jahrhundert siedelten sich die Alemannen in Vorarlberg an und brachten das Gebiet unter fränkische und später habsburgische Herrschaft. Im 14. Jahrhundert gelangten die verschiedenen Herrschaftsgebiete schließlich an die Habsburger, die bestrebt waren, ihre Territorien in der Schweiz und Österreich zu arrondieren. Im 18. Jahrhundert kamen die Walser aus dem Oberwallis und Graubünden in die Region und prägten Kultur und Wirtschaft.

Vorarlberg will zur Schweiz gehören

Im Jahr 1919 erlebte Vorarlberg eine entscheidende Phase, als die Bevölkerung in einer Volksabstimmung über einen möglichen Beitritt zur Schweiz abstimmte. Was war passiert? Die Monarchie der Habsburger war zerbrochen, die erste Republik ausgerufen. Darüber freuten sich nicht alle – das dürfte bis heute so geblieben sein. Ganz im Westen des Nachkriegs-Österreich regte sich Widerstand. Der Wiener Zentralismus mit der mächtigen SPÖ war den Vorarlbergern ein Dorn im Auge. Es sprach einiges für einen Wechsel zur Eidgenossenschaft: die unklare Zukunft Österreichs nach dem Zusammenbruch von Österreich-Ungarn, die wirtschaftliche Not und das Gefühl der Distanz zu Wien und der Vernachlässigung durch die dortige Regierung. Die Idee wurde vor allem von der einfacheren Bevölkerung getragen, während die Eliten – Großfabrikanten, Eisenbahner, Politiker und der Klerus – für einen Verbleib bei Deutschösterreich war. Doch zuerst musste eine eigene Verwaltung her. Vorarlberg spaltete sich in diesem Sinne von Tirol ab. Den Rest sollte das Volk entscheiden. Und zwar am 11. Mai 1919. Auf dem Wahlzettel wurden die Wähler gefragt: "Wünscht das Vorarlberger Volk, dass der Landesrat der Schweizer Bundesregierung die Absicht des Vorarlberger Volkes, in die Schweizerische Eidgenossenschaft einzutreten, bekannt gebe und mit der Bundesregierung in Verhandlungen trete?" Die Antwort war eindeutig: 47.727 Vorarlberger sagten Ja, 11.378 Nein. Damit waren 80,7 Prozent für einen Anschluss an die Schweiz, nur Bludenz und Hittisau (mit Bolgenach) stimmten dagegen. Die Gründe warum Vorarlberg dennoch bis heute ein Teil von Österreich ist, sind vielschichtig. Die kurz zuvor installierte provisorische Landesversammlung war zu unerfahren und zögerlich. Sie schicken eine Delegation nach Bern, Rechtsgelehrte wälzten die Gesetzbücher und wollten wissen, welche Gesetze geändert werden müssen, damit Vorarlberg ein Kanton werden kann. Auf der Schweizer Seite war die Freude verhalten über einen neuen "Kanton", weil ihrer Ansicht nach ein Beitritt Vorarlbergs zu einer katholischen Konfessionsmehrheit geführt und das deutschsprachige Übergewicht verstärkt hätte.

Eigener Staat Vorarlberg

Und auch die Siegermächte wollen nichts von dem Vorarlberger Wünschen wissen. Sie zeichneten 1919 bei der Friedenskonferenz in Paris selbst die Grenzen Europas neu – und Vorarlberg erhielt den Spitznamen "Kanton Übrig". Diese herabwürdigende Bezeichnung stammt von einem den Anschluss an Deutschland befürwortenden Gegner des Vorhabens. Immerhin: Mit der Errichtung der Republik wurde Vorarlberg ein selbständiges Bundesland mit eigener Landesregierung und einer im Wesentlichen bis heute gültigen Verfassung. Vorarlberg ist somit das einzige österreichische Bundesland, das sich in seiner Landesverfassung als selbständiger Staat bezeichnet. Dort heißt es am 30. Juli 1923 in Artikel 1: (1) Vorarlberg ist ein selbständiges Bundesland der demokratischen Republik Österreich. (2) Als selbständiger Staat übt Vorarlberg alle Hoheitsrechte aus, die nicht ausdrücklich dem Bunde übertragen sind oder übertragen werden.

Weiße Fahne brachte den Tod

Beim sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 wurde Vorarlberg mit ganz Österreich vom Deutschen Reich unter dem Jubel der einheimischen Nationalsozialisten de facto annektiert. Bereits kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Vorarlberg mit Tirol zum „Gau Tirol-Vorarlberg“ zwangsvereinigt und als selbständige Gebietskörperschaft aufgelöst. 1938 lebten in Vorarlberg nur noch sehr wenige Juden. Die seit dem 17. Jahrhundert bestehende Jüdische Gemeinde von Hohenems wurde zwangsweise aufgelöst und die Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Auch in Vorarlberg, das von Kriegshandlungen ziemlich verschont blieb, forderten die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und der Zweite Weltkrieg Menschenleben. Sogar noch kurz vor Kriegsende: im Frühjahr 1945 schoss die örtliche SS noch auf Zivilisten, die beim Anrücken der französischen Truppen „zu früh“ weiße Fahnen aus den Fenstern gehängt hatten.

Heute

Heute ist Vorarlberg eine der erfolgreichsten Wirtschaftsregionen weltweit. Die enge Verbindung von Tradition und Innovation hat dazu beigetragen, dass die Region florierende Branchen wie Maschinenbau, Textilindustrie, Holzverarbeitung und Dienstleistungen hervorgebracht hat. Die geografische Lage Vorarlbergs als Schnittpunkt zwischen Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein hat zu einem dynamischen Austausch von Ideen, Technologien und Wissen geführt. Die hervorragende Ausbildung, die Unterstützung von Forschung und Entwicklung sowie die starke regionale Wirtschaftskammer haben maßgeblich dazu beigetragen, dass Vorarlberg zu einem Zentrum für Innovation und Unternehmertum geworden ist. Im Jahr 2022 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Vorarlberg geschätzt 56.800 Euro. Damit stieg es gegenüber dem Vorjahr und auf einen Höchstwert im Beobachtungszeitraum an. Von 193 Regionen in europäischen Ländern, die in Europa der OECD angehören, erreichte die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung in Vorarlberg 2015 mit 38.200 € noch den 26. Platz. Wenn man aber – aus guten Gründen - vom Vergleich mit Millionenstädten und Hauptstädten absieht, erreichte die Wirtschaftsleistung pro Kopf in Vorarlberg unter den verbliebenen EU-Regionen den 12. Platz (ohne Schweiz!). Im Jahr 2021 sieht die Reihung der Österreichische Bundesländer nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf folgendermaßen aus: Salzburg 53.300, Wien 53.000, Vorarlberg 51.700, Oberösterreich 46.700, Tirol 45.400, Steiermark 41.300, Kärnten 40.300, Niederösterreich38.400, Burgenland 32.000. Sieht man von Wien ab, liegt also in Österreich das Bundesland Salzburg etwas vor, Tirol knapp hinter Vorarlberg.

Gsiberger si

Vorarlberg hat aber nicht nur wirtschaftlichen Erfolg zu bieten. Die malerische Landschaft, die historischen Städte und die reiche Kultur machen die Region zu einem beliebten Reiseziel für Touristen. Der Mix aus Tradition und Moderne, aus Geschichte und Zukunft prägt das Selbstverständnis der strebsamen, manchmal auch eigenwilligen „Gsiberger“. Einer Umfrage zufolge sehen 92 Prozent der Vorarlberger fleißig und arbeitsam zu sein als typisches vorarlbergerische Eigenschaft an. Weitere Merkmale sind zu 89 Prozent Sparsamkeit, 84 Prozent nennen den Vorarlberger konservativ, 81 Prozent naturverbunden, 78 Prozent verlässlich/zuverlässig, jeweils 73 Prozent patriotisch/ vaterlandsliebend und perfektionistisch/ordnungsliebend. Die Geschichte der Abstimmung von 1919 mag zwar ein unerfülltes Kapitel sein, aber Vorarlberg hat sich als eigenständige und innovative Region etabliert, die ihre Identität mit Stolz trägt.
zum vorherigen Artikel
Fairplace im Interview mit "Manjula Mala"
zum nächsten Artikel
Drei Jahre FAIRPLACE: „Weil es Spaß macht“